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Rechtssprechung und Strafvollzug im Ruhr-Lippe-Raum der frühen Neuzeit
von Shirin Mohr

Rechtsprechung in Strafsachen
Die territoriale Aufsplitterung des Ruhr-Lippe-Raums bedingte, dass sich auch die Justizverhältnisse von Ort zu Ort stark unterscheiden konnten. In jedem der Gerichtsbezirke hatte seit dem Mittelalter eine eigene Entwicklung des Gerichtswesens stattgefunden.
Im Stift Essen beispielsweise konnten Strafverfahren an verschiedenen gerichtlichen Institutionen verhandelt werden. Für Straftaten, für die so genannte „peinliche“ Strafen, d.h. Strafen an Leib und Leben, vorgesehen waren, war das Hochgericht zuständig. Daneben gab es das Niedergericht, vor dem Delikte verhandelt wurden, die mit Geldstrafen geahndet wurden. Als oberste Gerichtsherrin setzte die Äbtissin des Stifts die Richter für Hoch- und Niedergericht ein.1 Die Bürger der Stadt Essen konnten sich zudem im späten 16. Jahrhundert auch an den Rat der Stadt wenden, wenn sie eine Verleumdungsklage, zum Beispiel eine Beschimpfung als Hexe, einreichen wollten.2 Der Rat beanspruchte das Recht, auch darüber hinausgehend Strafjustiz auszuüben, so daß Streitigkeiten mit der Äbtissin entstanden.
Im Amt Bochum erfolgte die Rechtssprechung hingegen durch einen Richter, der ein Beamter des Landesherren war und demnach auch dessen Weisungen unterstand. Waren zunächst noch die „Sieben Freien“bäuerliche Schöffen, die von bestimmten Höfen stammten zur Rechtssprechung herangezogen worden, so erfolgte diese später mit dem Erstarken der Landesgewalt der Grafen von der Mark allein durch den landesherrlichen Richter. Hoch- und Halsgericht unterstanden zwar dem Landesherrn,3 allerdings gab es innerhalb des Territoriums Gebiete, auf die der Landesherr wenig Einfluss hatte, weil sie im Besitz von Adelsfamilien waren, die teils die niedrige, teils auch die hohe Gerichtsbarkeit über die Einwohner innerhalb ihres Besitzes besaßen.
Ein schriftlich niedergelegtes Strafgesetzbuch entstand in Bochum erst im 16. Jahrhundert. In diesem „Land- und Stoppelgesetz“ wurden die zuvor mündlich überlieferten Gesetzesbräuche, die im Wesentlichen mit denen der umliegenden Gemeinden übereinstimmten, aufgeschrieben.4

Vollzug „peinlicher Strafen“ durch den Scharfrichter
Für den Vollzug von Strafen und die Durchführung von Folter war der Scharfrichter zuständig. In Essen erhielt er seine Bestallung sowohl von seiten der Stadt als auch von Seiten der Äbtissin.5 Verbunden damit war ein „Mietgeld“. Seine Aufgaben umfassten unter anderem das Anschließen von "zänkischen" Frauen an den Pranger und das Stäupen, also das Auspeitschen am Pranger mit Reisigbündeln, von Dieben. Außerdem musste er bei der Folter die Angeklagten peinigen und Wasserproben organisieren und durchführen. Er führte die unterschiedlichen Hinrichtungarten von verurteilten Dieben, die am Galgen gehängt wurden, Ketzern, die den Feuertod zu erleiden hatten, Mördern, auf die das Rad wartete, und Kindesmörderinnen, die in einem Sack ertränkt wurden, durch.6
Hatte ein Gericht keinen eigenen Scharfrichter, dann wurde dieser in der Regel von einer benachbarten Gemeinde „ausgeliehen“. Auch wenn die Anzahl der Hinrichtungen so groß war, dass ein Scharfrichter für den Vollzug nicht ausreichte, wie etwa im Januar und Februar des Jahres 1598 im Vest Recklinghausen, wurde ein Scharfrichter aus einem anderen Gerichtsbezirk hinzugezogen. Durch seine Aufgaben hatten der Scharfrichter und seine gesamte Familie einen schlechten Ruf in der Bevölkerung. Sie galten vor allem bei den Zünften als „unehrlich“, d.h. ehrlos. Auch die Kinder von Scharfrichtern hatten oftmals unter deren Beruf zu leiden, da sie von der Lehre eines zünftigen Handwerks ausgeschlossen wurden und in der Regel nur innerhalb anderer Scharfrichterfamilien heiraten konnten.7

Strafrechtspflege im Ruhr-Lippe-Raum um 1590: Der Fall Margarete Burich
Im späten 16. Jahrhundert prägten Hexenprozesse mit Anwendung von Folter und Vollzug von grausamen Todesstrafen das Bild der Strafrechtspflege auch in großen Teilen des Ruhr-Lippe-Raums. Wie in vielen anderen Regionen des deutschen Reichs kam es dort seit etwa 1580 zu einer Zunahme von Hexenprozessen. Besonders im Vest Recklinghausen und im Stift Rellinghausen, aber auch in Dortmund, Witten und im Stift Essen wurden Zaubereiprozesse durchgeführt. Auffällig ist allerdings, dass die Gemeinden, die im 16. Jahrhundert der richterlichen Gewalt des Landesherren der Grafschaft Mark unterstanden, zu den verfolgungsarmen Gebieten zählten und nur wenige Prozesse nachweisbar sind.8
Ein Fall aus Dorsten (Vest Recklinghausen) zeigt, dass es aber auch in verfolgungsreichen Territorien durchaus kritische Stimmen innerhalb der Bevölkerung gegenüber den Hexenprozessen und der Folter als Mittel zur Erbringung eines echten Geständnisses gab. Die Frau des Bürgermeisters, Margareta Burich, war 1588 von einer Nachbarin verdächtigt worden, sie durch einem Schadenszauber krank gemacht zu haben. Margareta Burich wurde daraufhin von dem vestischen Richter Vincenz Rensing festgenommen. Nachdem sie an der Wasserprobe gescheitert war, leitete der Richter ein „peinliches Verhör“ ein. Da Margareta Burich während der Tortur ihre Unschuld beteuerte, erfolgten weitere vergebliche Versuche, von ihr auf diesem Wege ein Geständnis zu erpressen. Ihr stark geschwächter Körper verkraftete jedoch die stundenlange Folter nicht, so dass sie noch während der Tortur verstarb. Später wurde ihr Leichnam auf einem Karren zum Richtplatz gefahren und verurteilt. Bei dieser Fahrt soll ihr Körper so drapiert worden sein, dass ihr Genick brach, um behaupten zu können, der Teufel habe ihr während der Folter den Hals umgedreht.9
Margareta Burichs Verwandten wollten die Aussage, dass der Teufel ihr während der Folter das Genick gebrochen habe, nicht akzeptieren und wandten sich 1594 an das Reichskammergericht in Speyer, um ihren guten Ruf wiederherzustellen. In ihren Erklärungen warfen sie Richter Rensing unter anderem vor, er habe übereilt gehandelt und auch spätere Versuche des Ehemannes rechtliche Schritte gegen die Nachbarn, die seine Frau als Hexe bezichtigt hatten, einzuleiten, unterbunden. Des weiteren beschuldigten sie ihn, die Folter ohne gültige Indizien angeordnet zu haben und nach dem ersten ergebnislosen peinlichen Verhör immer weiter gefoltert zu haben, obwohl der stark geschwächte Körper von Margareta Burich es nicht mehr zuließ.10
Auffällig hierbei ist die Ähnlichkeit zum Mordfall Lackum, in dem die Untertanen ebenfalls gegen ihre Obrigkeit vor dem Reichskammergericht klagten, da sie das Peinliche Gerichtsverfahren und das Urteil ihrer Obrigkeit für inakzeptabel hielten. Sie wollten eine ungerechte Behandlung nicht hinnehmen und forderten auf rechtlichem Wege die Wiederherstellung des Rufs sowie einen angemessenen Schadensersatz. Im Zusammenhang mit den Hexenprozessen kam es im Ruhr-Lippe-Raum zu weiteren Anrufungen des Reichskammergerichts. Hatten sich die Möglichkeiten, die das Reichskammergericht den Untertanen bei ihrer Rechtssuche gegen ihre Obrigkeiten bot, vielleicht im Zusammenhang mit den Hexenprozessen herumgesprochen und die Familie Lackum dazu bewogen, ebenfalls diesen Schritt zu gehen?


Quellenauszüge

Verständigung mit einem Scharfrichter

 Oh nein, daß ist nitt geschehenn, wie komen die leude daran. Ich hab euch doch allezeitt nachgesacht, daß ihr mir barmhertzig seinn gewesen.“ (LAV NRW W, RKG 24, Bd. 2, fol. 248).

Der Name des Scharfrichters im Fall Lackum und seine Herkunft sind nicht bekannt. Er soll Georg Lackum nach der Tortur aufgefordert haben, sich beim Pastor zu beschweren, falls er ihn über die Maßen gefoltert habe. Georg Lackum soll mit den obigen Worten beteuert haben, daß der Scharfrichter das Maß nicht überschritten hatte. Der Drost zu Wetter bot in den Untersuchungen nach der Hinrichtung an, dies vom Pastor bezeugen zu lassen.

1 Kirchner, Bernhard: Rechtswesen und Rechtsbräuche in der Stadt Essen während des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 60 (1940), S. 142-237 (im Folgenden zitiert als: Kirchner, 1940), hier: S. 151f.

2 Kirchner, 1940, S. 152f.

3 Conrad, Hermann: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966 (im Folgenden zitiert als Conrad, 1966), S. 284 und 364; Höfken, Günter: Beiträge zur Geschichte des Gerichtswesens, in: Bochum. Stadt und Land in älterer Zeit, [URL: http://www.bochum.de/C125708500379A31/vwContentByKey/W27CNDN9039BOLDDE], 2009-06-04 (auch im Druck erschienen: 2. Heimatbuch, Bochum 1927) (im Folgenden zitiert als Höfken, 1927).

4 Conrad, 1966, S. 36 und 284; Höfken, 1927.

5 Wilbertz, Gisela: Scharfrichter in Essen. Zwischen Stadt und Landesherrin, in: Jan Gerchow (Hg.): Die Mauer der Stadt Essen vor der Industrie. 1244 bis 1865. Ruhrlandmuseum Essen, (1. Dezember 1995 - 14. April 1996), Bottrop 1995, S. 138-142, hier S. 138.

6 Höfken, 1966.; Kirchner, 1940, S. 149.

7 Gersmann, Gudrun: „Toverie halber…“. Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick, in: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen, 92/93 (1993/94), S. 7-43 (im Folgenden zitiert als Gersmann, 1993), S. 16; Höfken, 1966; Kirchner, 1940, S. 157.

8 Fuchs, Ralf-Peter: Der Fall Margareta Burich und die Hexenprozesse in Dorsten1588. Die Überlieferung einer Reichskammergerichtsakte, in: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen 92/93 (1993/94), S. 44-70 (im Folgenden zitiert als: Fuchs, !993), hier: S. 59; Fuchs, Ralf-Peter: Hexenverfolgung an Ruhr und Lippe. Die Nutzung der Justiz durch Herren und Untertanen, Münter 2002 (im Folgenden zitiert als: Fuchs, 2002), S.12-15; S. 25-30, S. 75, S. 102, S. 143-146; Gersmann, 1993, S. 15f, S. 21.

9 Fuchs, 1993, S. 46-49, S. 52-54, S. 69f.; Fuchs: 2002, S. 131f; Oestmann: Hexenprozesse, S. 253f.

10 Fuchs, 1993, S.52-54; Fuchs, 2002, S. 125f.

 

Layout by Dominik Greifenberg