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Der Weg zum Reichskammergericht – Ein lohnender Weg für frühneuzeitliche Untertanen?
von Claus Renzelmann

Die Frage, ob sich der Weg zum Reichskammergericht für die Untertanen der frühen Neuzeit gelohnt hat, lässt sich nicht einfach beantworten. Eine Annäherung über die Justizstatistik der damaligen Zeit ist schwierig, weil eine flächendeckende statistische Auswertung aufgrund der Teilung der Reichskammergerichtsakten auf viele verschiedene Archive erschwert ist. Eine inhaltliche Auswertung hat bis heute nur bei einem sehr kleinen Teil der Akten stattfinden können. Von ca. 76.000 archivalisch überlieferten Verfahren aus der Zeit von 1495 bis 1806 sind aber immerhin ca. 34.000 nach Verfahrensart und beteiligten Personen erfasst. 1

Justizstatistik
Bei den Verfahren, an denen Untertanen als Prozesspartei beteiligt waren, lässt sich ein klarer Überhang von sogenannten Appellationsverfahren feststellen, also von Verfahren, die sich gegen eine untergerichtliche Entscheidung richten. Das Reichskammergericht ist somit bei Untertanenprozessen überwiegend als Rechtsmittelgericht tätig geworden.
Eine weitere Aussage lässt sich in Bezug auf die soziale Herkunft der beteiligten Untertanen treffen: Ganz überwiegend handelte es sich um Beamte und Angehörige der Mittelschicht sowie Bürger von Reichsstädten; deutlich ist auszumachen, dass Untertanenprozesse häufig von Akademikern und Handwerkern betrieben wurden; Bauern und Angehörige der Unterschicht tauchen als Prozesspartei weniger häufig auf2.
Auch die Inanspruchnahme des grundsätzlich vorhandenen Armenrechts lässt sich nur in ausgesprochen wenigen Fällen nachweisen. Prozesse vor dem Reichskammergericht waren teuer und eher vermögenderen Schichten möglich. 3
Der Geschäftsanfall des Reichskammergerichts war erheblich. Genaue Zahlen gibt es nicht, man stützt sich aber auf Schätzungen aus Aktenstichproben. 4 Feststellen lässt sich, dass eine hohe Zahl von Verfahren unerledigt blieb5. Die Effektivität des Reichskammergerichts läßt sich aber allein aufgrund der Erledigungsquote nicht beurteilen. Der neueren Forschung ist in der Einschätzung zu folgen, dass eine große Zahl von Verfahren allein zum Zeitgewinn oder zur Erzielung eines außergerichtlichen Vergleichs begonnen wurde und bewusst von den Prozessparteien nicht weiter betrieben wurde. Die friedensstiftende Funktion von Verfahren vor dem Reichskammergericht habe sich nicht nur durch die Exekution von Urteilen bewähren können, sondern auch auf andere Weise6. Die Inanspruchnahme des Gerichts erfolgte vor allem in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Stabilität.
Was die Erfolgsquote der Untertanen anbelangt, ist festzustellen, dass bei kontradiktorischen Verfahren eine Erfolgsquote nicht ausgeworfen werden kann, weil in solchen Verfahren naturgemäß immer eine Partei gewinnt und eine verliert. Eine Erfassung der Fälle nach dem Prozessausgang ist durch die Wissenschaft bisher nur in Einzelfällen erfolgt. Auch hier lässt sich nur eine Tendenz ausmachen und eine Aussage zur Art der Verfahrensbeendigung treffen: Die meisten Verfahren endeten durch Urteil; ein weiterer großer Teil durch einen Vergleich der Parteien. Ob das Reichskammergericht bei Appellationsverfahren von Untertanen eher zur Klageabweisung oder zur Klagestattgabe neigte, lässt sich durch statistische Mittel nicht belegen. Die Justizstatistik hilft somit zur Beantwortung der Frage nicht weiter. Eine Annäherung über inhaltliche Kriterien ist erforderlich.

Ziele von Untertanenprozessen und Bezüge zum Fall Lackum
Sowohl bei Prozessen zwischen Untertanen als auch beim Vorgehen eines Untertanen gegen eine staatliche Entscheidung ging es zunächst einmal darum, die unmittelbaren Urteilsfolgen der Unterinstanz zu beseitigen, also die Sachentscheidung der Unterinstanz in ihr Gegenteil zu verkehren.
Darüber hinaus – und das ist eine Besonderheit der frühen Neuzeit – ging es aber auch um die Rehabilitation des in der Ausgangsinstanz unterlegenen Untertanen. Der Stellenwert von Ehre und Status ist in der frühen Neuzeit hoch angesiedelt. Im hier untersuchten Fall Lackum hat die Entscheidung der Ausgangsinstanz die verbliebenen Familienmitglieder nicht nur wirtschaftlich erheblich geschädigt, sondern vor allem ihre Stellung in persönlicher Hinsicht zerstört. Die Wiederherstellung von Ehre und Status musste deshalb für die Witwe und Kinder des Georg Lackum absolute Priorität genießen.
In eher seltenen Fällen richtete sich die Appellation nicht nur auf eine Rehabilitation und auf die Aufhebung untergerichtlicher Urteile, sondern auch auf Staatshaftung und Schadenersatz, also staatliche Wiedergutmachungsleistungen für erlittenes Justizunrecht (Realinjurienklage). Auch diesbezüglich ist der Fall Lackum interessant, zumal in der Antragsschrift an das Reichskammergericht unüblich hohe Beträge gefordert werden.

Staatsrechtliche Funktionen des Untertanenprozesses
Zur Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Untertanenprozessen kann mangels inhaltlicher Erfassung eines Großteils der Reichskammergerichtsakten nicht auf den Einzelfall zurückgegriffen werden, sondern es sind die grundsätzlichen staatsrechtlichen Funktionen des Untertanenprozesses zu beleuchten:
Zunächst einmal ging es den Untertanen stets um die Korrektur einer Einzelfallentscheidung in der Sache. Der wirkliche historische Wert der Untertanenprozesse ist jedoch darin zu sehen, dass die unteren Instanzen durch das Reichskammergericht zumindest einer grundsätzlichen Kontrollmöglichkeit unterworfen waren7.
Ob hierdurch das Verhalten der unteren Rechtsinstanzen tatsächlich beeinflusst wurde, lässt sich nicht seriös nachweisen. Es ist aber anzunehmen, dass durch die bloße Existenz einer höheren Instanz, also einer Überprüfbarkeit untergerichtlicher Entscheidungen, durchaus eine gewisse Vorsicht und eine Verstärkung der Pflicht zum gewissenhaften Arbeiten eingetreten ist. Die Appellationsmöglichkeit zum Reichskammergericht dürfte somit praktische Bedeutung auch für die Arbeit der Ausgangsinstanzen gewinnen haben. Kurz gesagt: Der Untertan hatte die Möglichkeit, seinen Richtern in der Ausgangsinstanz mit dem Gang zum Reichskammergericht zu drohen.
Scheurmann8 spricht darüber hinaus von einer "Vorbildfunktion für die Gerichtsbarkeit in den Territorien" und begründet dies u.a. mit der Tatsache, daß das RKG eine Reihe hervorragender Juristen hervorgebracht habe (Freiherren vom Stein und von Hardenberg, Goethe), die den wissenschaftlich orientierten Gerichtsprozess zu den Untergerichten trugen.
Die Einrichtung einer Rechtsschutzmöglichkeit als solche ist ein entscheidender Schritt in Richtung Moderne. Die Überprüfbarkeit von Urteilen und sonstigen staatlichen Maßnahmen über ein Gnaden- oder Petitionssystem hinaus in Form eines formalisierten Rechtsverfahrens kann als justizkultureller Durchbruch auf dem Weg zur Moderne verstanden werden.

Conclusio
Es ist nicht festzustellen, dass der Weg zum Reichskammergericht in jedem Fall für den frühneuzeitlichen Untertanen ein lohnender war. Dieser Weg war teuer, langwierig, in vielen Fällen erfolglos und korruptionsgefährdet.
Gleichwohl muss festgestellt werden, dass es auf die Aufhebung von Justizunrecht im Einzelfall bei einer historischen Betrachtung nicht unbedingt ankommt. Entscheidend ist, dass die grundsätzliche Möglichkeit der Appellation bestand. Das Reichskammergericht hat durch seine bloße Existenz wichtige staatspolitische Aufgaben erfüllt.
Die Einrichtung des Reichskammergerichts und insbesondere seine vielfältige Inanspruchnahme als Appellationsgericht stellt einen Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen, geordneten, funktionsfähigen und letztlich gerechten Justiz dar.

1 Siehe hierzu das Forschungsprojekt Prof. Dr. Schildt, Ruhr-Universität Bochum, www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de

2 Baumann, Anette, Die Gesellschaft der frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse, Köln/Weimar/Wien 2001, S.77-79 .

3 Stein, Hans-Konrad, Die vermögende Oberschicht und die "Spitzenvermögen" in Lübeck während des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts, Köln/Wien 1984, S. 163.

4 Ranieri, Filippo: Die Tätigkeit des Reichskammergerichts und seine Inanspruchnahme während des 16. Jahrhunderts, in: Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts, Köln/Wien 1984 (im Folgenden zitiert als: Ranieri, 1984), S. 44 ff.

5 Ranieri, 1984, S.54.

6 Diestelkamp, Bernhard (Hrsg.), Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts, Köln Wien 1984, Einleitung S. XVII.

7 Duchard, Heinz: Das Reichskammergericht im Verfassungsgefüge des Alten Reiches, in: Frieden durch Recht - Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 39.

8 Scheurmann, Ingrid: Die Organisation des Reichskammergerichts und der Verfahrensgang, in: Dies. (Hg.): Frieden durch Recht - Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S.121.

 

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